Thema

Themenpapier

Polarisierte Welten


Themenpapier zum 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sozio­lo­gie vom 26. bis 30. September 2022 in Bielefeld
Der 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie steht zwei­fels­ohne im Zeichen einer erschütterten Weltgemeinschaft, und zwar in meh­re­ren Hinsichten. Ins Zentrum globaler Diskurse ist anhaltend das Co­rona­virus SARS-CoV-2 gerückt. Mit dem Herunterfahren vieler ge­sell­schaft­li­cher Funktionen, einer konzertierten Aktion zwischen Politik, Ge­sund­heits­wesen und Massenmedien, einer vielfach einsichtigen Bevölkerung und einer raschen Entwicklung von Impfstoffen wurde eine erstaunliche An­pas­sungs­­leistung vollbracht. Dennoch hat sich die Pandemie weltweit ver­brei­tet; und nicht alle sind von ihren Folgen gleichermaßen betroffen. Ab­hän­gig von Kon­tinent, Region aber auch Klasse oder Geschlecht scheinen sich be­reits bestehende Ungleichheiten wie Polarisierungen zu verschärfen. Maß­nah­men zur Eindämmung werden nicht weltübergreifend, sondern na­tio­nal­staat­lich eingehegt. Medikamente und Impfstoffe sind in vielen Regionen nur schwer oder gar nicht zugänglich. Zeitgleich zweifeln in besser und gut ver­sorgten Ländern die Menschen die Wirklichkeit des Virus an und pro­tes­tie­ren gegen die Maßnahmen. Parallel zu diesem widersprüchlichen Ge­sche­hen haben sich weitere Phänomene zugespitzt, in deren Kontexten Be­nach­tei­ligungen, Ausgrenzungen und Differenzen sichtbar (gemacht) werden.

Erinnert sei an die zahlreichen Aktivitäten von Fridays For Future, die ihre An­strengungen auf weltweit auftretende Klimaveränderungen richten und in ihrem Protest nicht auf individuelles Verhalten, sondern auf strukturelle Ein­schnitte setzen. Fridays For Future hat jungen Menschen weltweit eine Stim­­me gegeben und auf generationale Differenzen aufmerksam gemacht. Em­­pörung und Wut über ausbleibende strukturelle Veränderungen, an­hal­ten­de Gewalt, Machtmissbrauch, Diskriminierung und Ausschluss von den Ver­heißungen der Moderne wie dem Anspruch auf Besonderheit, auf Frei­heit, Autonomie und Recht eint zudem Menschen unter den Hashtags #black­­­livesmatter und #metoo. In globalen Netzwerken verbreitet, entfal­ten Bewegungen wie diese eine starke Mobilisierungskraft: Ihre Forderungen ver­breiten sich global, werden lokal angeeignet und in die Weltgesellschaft zu­rückgespeist. Einhergehend werden auch soziologische Diskurse in un­ge­wohn­ter Dringlichkeit herausgefordert, – ob es nun um ihre theoretischen Tra­ditionslinien geht, oder um die Analyse empirischer Phänomene. Im Fokus des DGS-Kongresses stehen vor diesem Hintergrund Vorträge und Dis­kussionen, die das Interesse an Polarisierungsprozessen aufnehmen: Wie ent­stehen Polarisierungen, wie verlaufen sie und mit welchen Folgen sind sie ver­bunden? Aber auch: Was läuft ihnen zuwider, irritiert oder hebt sie auf? Uns interessieren Beiträge, die diesen Voraussetzungen, Verläufen und Fol­gen an möglichst vielfältigen sozialen Konstellationen nachspüren.

Der Begriff der Polarisierung ist freilich kein Novum in der Soziologie, je­doch scheint er durch die aktuellen Ereignisse eine neuerliche Relevanz zu er­fahren. Neben seiner Bedeutung für die Beschreibung gesellschaftlicher Ent­­wicklungen der Gegenwart kann auf eine vergleichsweise lange Ge­schich­te des Begriffskomplexes ›Polarisierung, Polarisation und Polarität‹ zu­rückgeblickt werden. Bereits beim ›6. Deutschen Soziologentag‹ 1928 wur­de die Multipolarität von Denkstandorten im Zusammenhang mit Hal­tun­gen des Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus diskutiert. Wir wol­len den Begriff der Polarisierung an dieser Stelle weiten, ohne einen genuin soziologischen Zugriff aufzugeben. Damit betonen wir unter an­de­rem, dass Polarisierungen nicht nur im Bereich des Politischen von Be­deu­tung sind, sondern ebenso zum Beispiel eine ästhetische, sozio-öko­no­mi­sche oder kulturelle Dimension haben können. Die Polarisierung definiert Identitäten. Man ist, wovon man sich unterscheidet. Religiöse Zu­ge­hörig­keit, wissenschaftliche Orientierung, kulturelle Praktiken, Konsumstile und Stile unternehmerischen Handelns definieren sich durch das, was sie ab­leh­nen, fast unabhängig von dem, was sie sind und tun. Zugleich eignet sich der Begriff der Polarisierung, um strukturell nach der sozialen Verortung von Lebensverhältnissen zu fragen.

Wir verwenden den Weltbegriff im Plural – sprechen also bewusst nicht von ›der polarisierten Welt‹, sondern von ›polarisierten Welten‹. Der Grund dafür ist, dass wir beobachten und genauer verstehen wollen, in­wie­fern Polarisierungsprozesse in vielfältiger Form vorkommen, koexistieren, aber auch aufeinandertreffen und einander – mit ihren jeweiligen ›Welten‹ – beeinflussen können. Welche Orientierungsleistungen haben sich in einer Ge­sellschaft, in ihrem Alltag ebenso wie in ihrem professionellen Handeln, derart abgeschwächt, dass Polarisierung, wenn die Diagnose stimmt, einen so dominanten Stellenwert gewinnt? ›Welten‹ lassen sich hier als Wirk­lich­kei­ten wie als Horizonte sozialen Handelns und Erlebens in ihren je unter­schied­lichen Kontexten und kulturellen Perspektiven über ihre Praktiken bis hin zu ihren Materialitäten und ökologischen Einbettungen verstehen. Unter ›pola­risierten Welten‹ lassen sich somit Polarisierungen zwischen unter­schiedlichen Welten wie auch innerhalb dieser in den Blick nehmen. Ent­spre­chend interessieren wir uns für die umfassende Spaltungen und Dif­fe­ren­zierungen ebenso wie für Prozesse der Reintegration und dadurch ent­stehende symmetrische oder asymmetrische Verhältnisse des Sozialen. Als Beispiele sind die Beziehungen des Lokalen zum Globalen zu nennen, der vir­tuellen zu den physischen Wirklichkeiten, die Fraktionierungen im Be­reich des Humanen und des Lebens wie der sozialen Mikrokosmen und ihren sozialen Makrokosmen. Als Vermittlungsebene kommen Or­ga­ni­sa­tionen auf der Mesoebene in Frage, die unterscheidbare Welten miteinander ver­knüpfen. Schließlich interessiert uns, dass auch die Soziologie bzw. So­zio­log*innen selbst in Polarisierungsprozesse eingreifen können. In diesem Sinne überschneiden sich die uns interessierenden polarisierten Welten mit der Welt der Soziologie auf vielfältige Weise. Auch der diskursive und all­täg­liche Gebrauch von Welt-Begriffen ist dabei von Interesse, so etwa die Be­griff­lichkeit von den drei Welten (Erste, Zweite, Dritte Welt) während des ›Kal­ten Krieges‹ oder die neuere dichotome Einteilung der Welt in Glo­ba­len Süden und Globalen Norden. Neuere Debatten zur Dekolonialisierung und der damit einhergehenden Frage unserer Beteiligung an der Re­pro­duk­tion imperialer Vorstellungen von Welt schließen daran an.

1. Phänomene polarisierter Welten

Aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Soziale Bewegungen (zum Beispiel #blacklivesmatter, Fridays for Future aber auch die Gilets Jaunes) verweisen auf die erneute Konjunktur von Polarisierung. Dies wirft auch empirische Fragen nach der gegenwärtigen Verfasstheit ›Polarisierter Wel­ten‹ auf. Neuere Forschungen, welche die vergangenen 200 Jahre in den Blick nehmen, weisen darauf hin, dass die ›soziale Schere‹ im Hinblick auf Einkommen und Vermögen heute weniger stark durch das Merkmal Klasse be­stimmt ist, sondern durch den Wohnort bzw. die Bürger*innenschaft – und damit durch die sozial-räumliche Position. Zudem lassen sich zwei ge­gen­läufige Tendenzen feststellen, die in das weltweite Gefüge von Ein­kom­mens­ungleichheiten eingreifen und entsprechende Wahrnehmungen be­ein­flus­sen: Einerseits nehmen die Ungleichheiten zwischen Ländern ab, ande­rer­seits nehmen in Rückgriff auf Milanović, Piketty und so weiter die Un­gleich­heiten innerhalb von Ländern sowie zwischen länderübergreifenden Ein­kommensklassen zu. Hier drängen sich auch Fragen der Skalierung von ›Welt‹ auf: Bezieht sich der Horizont der sozialen Zusammengehörigkeit auf den Nationalstaat (Kommunitarismus) oder auf die Menschheit (Kos­mo­politanismus)? Soziale Räume in den Blick nehmend erscheint uns auch die Frage lohnend, ab welcher räumlichen Dimensionierung und ab welcher Reich­weite soziale Beziehungen als Weltgemeinschaft oder Weltgesellschaft er­lebt werden. In welchem Verhältnis stehen hierbei soziale und räumliche Praxis zum Beispiel im Hinblick auf Mobilität? Inwieweit verändert die vor­an­schreitende Digitalisierung geteilte Erfahrungen, Zugehörigkeiten und so­ziale Beziehungen?

Zugleich möchten wir auf die historisierende Dimension des Kon­gress­the­mas hinweisen, ihre Bezugnahme auf Zeit- und Zukunftshorizonte. Uns geht es nicht nur um Gefahr und Risiko, sondern auch um Denk- und Ge­stal­tungsspielräume, um wandelbare Vorstellungen des ›Es-könnte-auch-an­­ders-seins‹, auf utopische wie dystopische Momente von Welten und des In-der-Welt-seins. Die durch Menschen verursachten Konsequenzen des Klima­wandels polarisieren das Verhältnis von jüngeren und älteren Gene­ra­tio­nen, von Armen und Reichen und der Aushandlung dessen, in welcher Welt gelebt und überlebt werden kann. Die damit verbundenen Konflikte um die Zukunftsgestaltung sind komplex, aber ebenso elementar: Wie kann bei­­spielsweise in Zukunft die Produktion von Lebensmitteln, eine Ver­tei­lung von Land und Meeresflächen oder eine globale Energiegewinnung aus­se­hen, die gerecht ist und keine Lebensgrundlagen zerstört? Aus­hand­lun­gen von Zukunft prägen ebenso die Gegenwart. In den vergangenen Jahren deu­ten zahlreiche Studien auf politische Polarisierungsprozesse hin, die sich hin­sicht­lich einer wachsenden Distanz zwischen unterschiedlichen Positionen und Meinungen beschreiben lassen. Zu nennen sind hier neue Ver­schrän­kun­gen von Milieus entlang der Achse Faktizität/Kontrafaktizität, pro und con­tra Evidenzbasierung und vieles mehr. Unterschiedliche Polarisierungen lassen sich auch zwischen und innerhalb der (Welt-)Religionen erkennen. Als Trittbrett genutzt, greifen sie in politische, wirtschaftliche und in private Dimensionen von Polarisierung ein. So etwa in Polarisierungsprozesse am Arbeits­markt, auch in Bereiche der Reproduktion wie jener der Bildung, der Sorgearbeit (Care) und der Gesundheitsversorgung.

2. Effekte und Wirkungen polarisierter Welten

Die Folgen von Polarisierung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für De­mokratie und gesellschaftlichen Wandel, für die Meinungsbildung im öffent­lichen Raum und die Chancen der Konfliktregulierung werden in ver­stärk­tem Maße diskutiert. Stellt Polarisierung per se eine Gefahr für ge­sell­schaft­lichen Zusammenhalt und Demokratie dar oder ist sie (auch) ein not­wen­diger Bestandteil gesellschaftlichen Wandels? Diese Frage stellt sich für die Kämpfe und Auseinandersetzungen marginalisierter und ausgebeuteter ge­sellschaftlicher Gruppen, aber auch für die Debatten im Bürgertum und die intellektuelle Verständigung auf zustimmungsfähige Weltbilder. Denn Po­larisierung kann auch mit ungewohnten Allianzbildungen, neuen Per­spek­­tiven und neuem Zusammenhalt einhergehen – oder eben diese unter­bin­­den. Dies bedeutet, dass Polarisierungsprozesse nicht zwangsläufig zu ohn­mächtigen und verlassenen Lebenswelten führen, sondern auch zu neu­en Kontexten und Strategien der Bewältigung und Auseinandersetzung, die es zu verstehen gilt. Ist Polarisierung, wenn es um große gesellschaftliche Her­ausforderungen geht, eher Teil des Problems oder der Lösung? So kann Po­la­risierung einerseits demokratische Prozesse und Institutionen gefähr­den, andererseits Orientierung und Beteiligung stärken sowie Transparenz und Rechenschaftspflichten durchsetzen. Welche Räume und Formate stellt die Gesellschaft bereit, die Polarisierung zu reflektieren, die Einsicht in ihre Kon­tingenz zu fördern und zugrundeliegende Fragen nach dem Zu­sam­men­leben der Menschen zu stellen? Welchen Beitrag leistet die Soziologie zu die­ser Reflexion und diesem Ausgleich?

Erfahrungen von Flucht und Migration schreiben sich global in un­zäh­li­ge Biographien ein – das Sterben flüchtender und migrierender Menschen im Mittelmeer ist zu einem drastischen Sinnbild hierarchisierter Welten ge­wor­den. Humanitäre Interventionen wie die Rettung von Schiffbrüchigen sind Gegenstand von äußerster Polarisierung in Europa geworden. Während auf der einen Seite eine stärkere Abschottung gefordert wird, kämpfen an­de­re um deren Ende. Muss Polarisierung überwunden oder eher ein­kal­ku­liert werden? Beides kommt empirisch in Projekten der Welt(en)­ver­bes­se­rung vor. Die Bedeutung dieser Fragen tritt in historischer Perspektive be­son­ders deutlich hervor. Während das ›Kommunistische Manifest‹ noch eine klare Trägergruppe einer wünschenswerten neuen sozialen Ordnung be­nennt, werden heute multiple Akteur*innen identifiziert, die in Begriffen wie ›Multitude‹ zum Ausdruck kommen. Besonderes Augenmerk ist hierzu in letzter Zeit auf die Polarisierungsinstrumente einer digitalen Gesellschaft ge­legt worden. Das sogenannte ›Social Web‹ erzeugt neue Allianzen, die ge­sell­schaftlich wie politisch Macht ausüben und zur Egalisierung von Un­gleich­heiten beitragen, jedoch über verschieden verteilte Zugangs­mög­lich­kei­ten gleichzeitig Ausschlüsse erzeugen können. Plattformen werden zu vir­tuellen Orten, auf die hingezogen wird und die genutzt werden, um Un­ent­schiedene(s) aus Grauzonen auf bestimmte Seiten zu ziehen. Zugleich un­ter­laufen diese Plattformen etablierte Strukturen der Macht. Hinsichtlich sozialer Netzwerke lässt sich zudem beobachten, dass diese immer offener und ›bunter‹ werden, so zum Beispiel durch transnationale Kontakte und Be­ziehungen (aber nicht zwangsläufig in allen Milieus). Andererseits gibt es auch deutliche Schließungstendenzen der Art, dass weltanschaulich/mental geschlossene Gruppierungen an Bedeutung zunehmen, die eher kulturellen als materiellen Distinktionen folgen, verstärkt durch die Möglichkeiten der Di­gitalisierung (›Echokammern‹). Hier lautet eine übergeordnete Frage, in­wiefern digitale Unterstützungssysteme bzw. soziotechnische Systeme zu einem Abbau oder zur Verstärkung von sozialen Ungleichheiten beitragen. Denn Systeme wie diese können Vorurteile nicht nur nicht beseitigen, son­dern auch akzentuieren und gesellschaftliche Spaltung vorantreiben. ›Digi­ta­le Zwillinge‹, also Repräsentationen von realen Menschen als zunehmend reich­haltige und komplexe Datenkonglomerate sind nur wenig untersucht und eine gesellschaftliche Bewertung im Hinblick darauf, inwiefern sie tat­säch­lich Basis von Chancenzuweisungen sein können bzw. sollen, steht noch aus. Inwiefern sind beispielsweise Erkenntnisse aus Genom­sequen­zie­run­gen aussagekräftig? Welche Aussagekraft haben prozessproduzierte Da­ten am Arbeitsplatz, beispielsweise für die Leistungsbewertung? Diskutieren wollen wir demnach auch Mechanismen, die (unerwünschte) Pola­ri­sie­run­gen wieder einhegen oder nach Kompensationsmöglichkeiten fragen.

3. Soziologie polarisierter Welten

Über welche Pole und/oder Welten redet die Soziologie fast 100 Jahre nach den Debatten aus dem Jahr 1928 – und über welche nicht? Und welche Pole sind in bestimmten Zeitphasen besonders prominent? Zum klassischen Re­per­toire soziologischer Antworten gehören indes die Perspektiven auf Fel­der, Systeme, soziale Kreise, Lagen und Formen, Milieus und Lebenswelten oder auch Welten der Rechtfertigung. Darüber hinaus sind ›Neu- und Wie­der­entdeckungen‹ zu nennen, wie die (sozial-kulturelle) Klasse, die frag­men­ta­le Differenzierung, Subsinnwelten, Humandifferenzierung oder Nach­ahmungs­strahlen. Wir verstehen diese als eine offene Liste, deren Be­ar­bei­tung ein Gegenstand des Kongresses sein kann. Dabei geht es nicht exklusiv um mehr oder weniger neuartige Differenzierungen. Mit dem Begriff der Po­la­risierung sind über das Differenzierte hinaus Abstufungen seiner Inten­si­tät angesprochen, die bis zur Abschottung reichen. Dies wiederum stellt Be­ziehungen zu weiteren Ungleichheits- bzw. Vielheitsdimensionen her. Da­ran anknüpfend ist zu fragen, inwieweit der Beobachtungsstandort das Er­leben und Handeln festlegt. Welche Welten sind nur von bestimmten und be­stimmbaren Weltstandorten aus erfassbar? Von welchen Relationierungen zwi­schen ihnen können wir ausgehen: in Form von Konkurrenz, Konflikt, fried­licher oder feindlicher Übernahme, Überzeugung, Überredung, Über­set­­zung, Unterdrückung, Verflechtung, Interdependenz und vieles mehr? In welchem Bezug steht Polarisierung wiederum selbst zu anderen Konzepten, wie etwa Widerspruch, Dialektik, Dichotomie, Binarität, Paradoxie, Am­bi­va­lenz, Indifferenz, Antagonismus oder Entfremdung? Wie verhalten sich Po­la­risierung und Fragmentierung zueinander? Lässt sich die Wahrnehmung von Polarisierung ohne Mobilisierung denken? Heben sich die Ein­wirk­ver­suche so vieler polarisierter Welten wechselseitig auf, oder gehen unter­schied­liche Welten mit ungleichen Durchsetzungschancen einher? Wie stel­len wir ›soziale Welten‹ und ›soziale Polaritäten‹ her? Welche Rolle spielen Kör­per, Materialitäten, Praktiken oder Semantiken hierfür? Wo und wie wer­den Polarisierungen vollzogen, realisiert und markiert? Auch die willkürliche oder unwillkürliche Herstellung strikter Differenz ist kein neues Phänomen. So­ziale Medien, digitale Online-Plattformen wie auch das sogenannte Dark Web bieten zuvor ungekannte Möglichkeiten der Vergemeinschaftung eben­so wie des Polarisierens. Die hier entstehende Sozialität und die sie kon­sti­tuie­renden Praktiken als polarisierend zu beobachten, ist zudem nicht selbst­ver­ständlich und erfordert soziologische Reflexion: Wie ist es möglich, dass sich soziale Welten differenzieren und diese Welten dann auch noch als ›Pola­risierungen‹ bewertet werden? Welche Bedeutung kommt bei der Ent­wick­lung, Gestaltung und Regulierung dieser digitalen Sozialität Techno­lo­gie­konzernen wie den ›Big Five‹ (Google, Apple, Facebook, Amazon, Micro­soft) zu?

Schließlich: Die Soziologie kann sich nicht als große Ausnahme behan­deln, sie ist in vielfacher Hinsicht Teil der Konstruktion von ›Polarisierung‹ und von ›Welt(en)‹. Sie beobachtet und stiftet schon damit Unterschiede; sie definiert, misst und schneidet auf diese Weise Welt(en) zu; sie schafft eige­ne Begriffswelten, bezieht auch in öffentlichen Debatten Stellung, was wie­derum als Polarisierung beobachtet werden kann. Viele der gegen­wär­ti­gen existenziellen Krisen und Phänomene, die Teil der polarisierten Welten sind, stellt die Methodologien der Soziologie auf die Probe. Was manche als Plu­ralität für eine Stärke des Fachs halten, wird im milden Fall als ›Multi­para­digmatase‹ (Luhmann) bezeichnet, die in schwereren Fällen offenbar zur Spaltung einer (Fach-)Gesellschaft führen kann. Auch wenn uns diese Pola­risierung besonders nahe ist oder geht, liegt doch der Schwerpunkt un­se­res Themas darauf, dass wir in einer Welt voller polarisierter Welten auf viel­fältigen Ebenen leben, die in vielschichtigen Weisen aufeinander be­zo­gen sind. Solche Konstruktionen, Relationen und Effekte besser zu ver­ste­hen, soll den 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kenn­zeich­nen.

Das Themenpapier als PDF finden Sie zum Download hier: PDF sowie im Heft 3/2021 der SOZIOLOGIE

Polarized Worlds  

Thematic Paper for the 41st Congress of the German Sociological Association at the University of Bielefeld, September 26 - 30, 2022
The 41st Congress of the German Sociological Association will undoubtedly be marked by a shaken world community, in several respects. The SARS-CoV-2 coronavirus has persistently moved to the center of global discourses. With the shutdown of many societal functions, concerted action between politics, public health, and mass media, a populace that was in many cases insightful, and rapid development of vaccines, an amazing feat of adaptation was accomplished. Nevertheless, the pandemic has spread worldwide; and not everyone has been equally affected by its consequences. Depending on continent, region, but also class or gender, pre-existing inequalities such as polarization seem to be exacerbated. Measures of containment are not global but nationally hemmed in. Drugs and vaccines are difficult or impossible to access in many regions. At the same time, in better and well-supplied countries, people doubt the reality of the virus and protest the measures. Parallel to these contradictory events, other phenomena have come to a head, in whose contexts disadvantages, exclusions and differences are (made) visible.

Let us recall the numerous activities of Fridays For Future, which focus their efforts on climate changes occurring worldwide and do not rely on individual behavior in their protest, but on structural cuts. Fridays For Future gave young people around the world a voice and drew attention to generational differences. Outrage and anger at the lack of structural change, ongoing violence, abuse of power, discrimination, and exclusion from the promises of modernity such as the claim to specialness, freedom, autonomy, and justice are also uniting people under the hashtags #blacklivesmatter and #metoo. Spread in global networks, movements like these develop a strong mobilizing power: their demands spread globally, are appropriated locally and fed back into the world society. Consequently, sociological discourses are challenged with an unusual urgency - whether it is about their theoretical lines of tradition, or about the analysis of empirical phenomena. Against this background, the DGS congress will focus on lectures and discussions that take up the interest in polarization processes: How depolarizations arise, how do they proceed, and with what consequences are they associated? But also: What runs counter to them, irritates them or cancels them out? We are interested in contributions that trace these preconditions, processes and consequences in as many different social constellations as possible.

The concept of polarization is certainly not a novelty in sociology, but it seems to have gained renewed relevance as a result of current events. In addition to its importance for the description of contemporary social developments, we can look back on a comparatively long history of the conceptual complex ›polarization, polarization and polarity‹. Already at the ›6thGerman Sociologists‹ Congress› in 1928 the multipolarity of thought locations was discussed in connection with attitudes of liberalism, conservatism and socialism. We want to broaden the concept of polarization at this point without giving up a genuine sociological access. In doing so, we emphasize, among other things, that polarizations are not only significant in the political realm, but can equally have, for example, an aesthetic, socio-economic, or cultural dimension. Polarization defines identities. One is what one is different from. Religious affiliations, scientific orientations, cultural practices, consumption styles, and styles of entrepreneurial action define themselves by what they reject, almost independently of what they are and do. At the same time, the concept of polarization lends itself to asking structural questions about the social location of living conditions.

We use the concept of world in the plural - that is, we deliberately do not speak of ‹the polarized world› but of ‹polarized worlds›. The reason for this is that we want to observe and understand more precisely the extent to which polarization processes occur in many forms, coexist, but also can clash and influence each other - with their respective ‹worlds›. What orientation services have become so attenuated in a society, in its everyday life as well as in its professional actions, that polarization, if the diagnosis is correct, gains such a dominant status? Worlds‹ can be understood here as realities as well as horizons of social action and experience in their respective different contexts and cultural perspectives via their practices to their materialities and ecological embeddings. Under ›polarized worlds‹, polarizations between different worlds as well as within them can thus be taken into account. Accordingly, we are interested in the comprehensive cleavages and differentiations as well as in processes of reintegration and the symmetrical or asymmetrical relations of the social that emerge as a result. Examples are the relations of the local to the global, of the virtual to the physical realities, the fractionations in the realm of the human and the life like social microcosms and their social macrocosms. As a level of mediation, organizations at the meso level that link distinguishable worlds come into question. Finally, we are interested in the fact that sociology or sociologists themselves can intervene in polarization processes. In this sense, the polarized worlds we are interested in overlap with the world of sociology in many ways. The discursive and everyday use of world concepts is also of interest, such as the conceptualization of the three worlds (First, Second, Third World) during the ›Cold War‹ or the more recent dichotomous division of the world into Global South and Global North. Recent debates on decolonization and the related question of our participation in the reproduction of imperial conceptions of the world follow on from this.

1. Phenomena of polarized worlds

Current social conflicts and social movements (for example #blacklivesmatter, Fridays for Future but also the Gilets Jaunes) point to the renewed conjuncture of polarization. This also raises empirical questions about the current constitution of ›polarized worlds‹. Recent research, which looks at the past 200 years, indicates that the ›social gap‹ in terms of income and wealth is today less strongly determined by class, but by place of residence or citizenship- and thus by socio-spatial position. In addition, two opposing trends can be identified that intervene in the global structure of income inequalities and influence corresponding perceptions: On the one hand, inequalities between countries are decreasing; on the other hand, recalling Milanovic, Piketty, and so on, inequalities within countries as well as between income classes across countries are increasing. Here, questions of the scaling of ›world‹ also intrude: Does the horizon of social belonging refer to the nation-state (communitarianism) or to humanity (cosmopolitanism)? Taking social spaces into consideration, we also find it worthwhile to ask at what spatial dimensioning and at what range social relations are experienced as world community or world society. What is the relationship between social and spatial practice, for example with regard to mobility? To what extent does the advancing digitalization change shared experiences, affiliations and social relations?

At the same time, we would like to point out the historicizing dimension of the congress theme, its reference to time and future horizons. We are not only concerned with danger and risk, but also with the scope for thinking and shaping, with changeable ideas of ›it-could-also-be-other‹, with utopian as well as dystopian moments of worlds and of being-in-the-world. The human-induced consequences of climate change polarize the relationship between younger and older generations, the poor and the rich, and the negotiation of what kind of world can be lived and survived in. The associated conflicts about shaping the future are complex, but equally elementary: How, for example, can the production of food, a distribution of land and ocean areas, or a global energy production look in the future that is fair and does not destroy livelihoods? Negotiations of the future also shape the present. In recent years, numerous studies point to political polarization processes that can be described in terms of a growing distance between different positions and opinions. New entanglements of milieus along the axis of factuality/contra factuality, pro and contra evidence-based approaches, and much more are worth mentioning here. Different polarizations can also be seen between and within (world) religions. Used as a stepping stone, they intervene in political, economic and private dimensions of polarization. For example, polarization processes in the labor market, as well as in areas of reproduction such as education, care, and health care.

2. Effects and impacts of polarized worlds

The consequences of polarization for social cohesion, for democracy and social change, for the formation of opinion in the public sphere and for the opportunities for conflict regulation are increasingly being discussed. Does polarization per se pose a threat to social cohesion and democracy, or is it (also) a necessary component of social change? This question arises for the struggles and disputes of marginalized and exploited social groups, but also for the debates in the middle classes and the intellectual understanding of world views that can be agreed upon. For polarization can also be accompanied by unusual alliance-building, new perspectives and new cohesion - or it can prevent them. This means that polarization processes do not necessarily lead to powerless and abandoned lifeworld›s, but also to new contexts and strategies of coping and confrontation that need to be understood. When it comes to major social challenges, is polarization more part of the problem or part of the solution? Thus, on the one hand, polarization can endanger democratic processes and institutions; on the other hand, it can strengthen orientation and participation and enforce transparency and accountability. What spaces and formats does society provide for reflecting on polarization, promoting insight into its contingency, and asking underlying questions about how people live together? What contribution does sociology make to this reflection and balancing?

Experiences of flight and migration inscribe themselves globally in countless biographies - the death of fleeing and migrating people in the Mediterranean has become a drastic symbol of hierarchized worlds. Humanitarian interventions such as the rescue of shipwrecked people have become the subject of extreme polarization in Europe. While on one side there are calls for greater isolation, others are fighting to end it. Does polarization need to be overcome or rather factored in? Both occur empirically in projects of world(s)improvement. The importance of these questions emerges particularly clearly in historical perspective. While the ‹Communist Manifesto› still names a clear carrier group of a desirable new social order, today multiple actors are identified, which are expressed in terms of ‹multitude›. In this context, special attention has recently been paid to the polarization instruments of a digital society. The so-called ‹social web› generates new alliances that exercise social and political power and contribute to the equalization of inequalities, but at the same time can generate exclusions through differently distributed access possibilities. Platforms become virtual places to be drawn to and used to draw undecideds from gray areas to particular sides. At the same time, these platforms undermine established structures of power. With regard to social networks, it can also be observed that they are becoming increasingly open and ‹colorful›, for example through transnational contacts and relationships (but not necessarily in all milieus). On the other hand, there are also clear closing tendencies of the kind that ideologically/mentally closed groupings are gaining in importance, following cultural rather than material distinctions, reinforced by the possibilities of digitization (‹echo chambers›). Here, an overarching question is to what extent digital support systems or socio-technical systems contribute to a reduction or reinforcement of social inequalities. After all, systems like these not only fail to eliminate prejudices, they can accentuate them and drive social divisions.‹ Digital twins,› representations of real people as increasingly rich and complex data conglomerates, have been little studied, and a social assessment of the extent to which they can or should actually be the basis of opportunity allocation has yet to be made. To what extent, for example, are findings from genome sequencing meaningful? What is the significance of process-produced data in the workplace, for example for performance evaluation? Accordingly, we also want to discuss mechanisms that contain (undesirable)polarizations or ask about compensation possibilities.

3. Sociology of polarized worlds

Almost 100 years after the debates of 1928, which poles and/or worlds is sociology talking about - and which is it not? And which poles are particularly prominent in certain periods? The classical repertoire of sociological answers, meanwhile, includes perspectives on fields, systems, social circles, situations and forms, milieus and life worlds, or worlds of justification. In addition, ‹new discoveries› and ‹rediscoveries› include (social-cultural) class, fragmentary differentiation, sub-sense worlds, human differentiation, or imitation rays. We understand these as an open list, the processing of which can be a subject of the congress. It is not exclusively about more or less novel differentiations. With the concept of polarization, gradations of its intensity are addressed beyond the differentiated, reaching as far as compartmentalization. This, in turn, establishes relationships to further dimensions of inequality and multiplicity. Following on from this, it must be asked to what extent the location of observation determines experience and action. Which worlds can only be grasped from certain and determinable world locations? What relations between them can we assume: in the form of competition, conflict, peaceful or hostile takeover, persuasion, persuasion, translation, suppression, interconnectedness, interdependence and much more? In turn, how does polarization itself relate to other concepts, such as contradiction, dialectic, dichotomy, binarity, paradox, ambivalence, indifference, antagonism, or alienation? How do polarization and fragmentation relate to each other? Can the perception of polarization be thought without mobilization? Do the attempts of so many polarized worlds to influence each other cancel each other out, or are different worlds accompanied by unequal chances of assertion? How do we make ‹social worlds› and ‹social polarities›? What role do bodies, materialities, practices or semantics play in this? Where and how are polarizations enacted, realized, and marked? The arbitrary or involuntary production of strict difference is also not a new phenomenon. Social media, digital online platforms, as well as the so-called dark web offer previously unknown possibilities of communalization as well as polarization. Moreover, observing the sociality that emerges here and the practices that constitute it as polarizing is not self-evident and requires sociological reflection: how is it possible that social worlds differentiate and that these worlds are then also evaluated as ‹polarizations›? What is the significance of technology corporations such as the ‹Big Five› (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) in the development, shaping and regulation of this digital sociality?

Finally: Sociology cannot treat itself as a great exception, it is in many ways part of the construction of ‹polarization› and of ‹world(s)›. It observes and already thereby creates differences; it defines, measures and cuts world(s) in this way; it creates its own conceptual worlds, also takes a stand in public debates, which in turn can be observed as polarization. Many of the contemporary existential crises and phenomena that are part of polarized worlds test the methodologies of sociology. What some consider a plurality to be a strength of the discipline is, in a mild case, called ‹multiparadigmatasis' (Luhmann), which in more severe cases can apparently lead to the division of a (specialized) society. Even if this polarization is or goes particularly close to us, the focus of our topic is that we live in a world full of polarized worlds on multiple levels that are related to each other in multi-layered ways. Understanding such constructions, relations and effects better should characterize the 41st Congress of the German Sociological Association.

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